Hoffnungen und Befürchtungen als Ausgangspunkt
Eine sehr wichtige Grundlage für das Gelingen einer Veranstaltung ist, wenn alle gemeinsam Verantwortung für den Prozess übernehmen (und nicht erwarten, dass wir als Prozessbegleitung „hellseherisch“ und in vorauseilendem Aktionismus alles tun, damit alle das bekommen, was sie wollen). Das ist quasi das wichtigste Qualitätsmerkmal eines partizipativen, mutigen Raums.
In meiner Praxis gibt es viele kleine und größere Dinge, die ich tue (und lasse), um das herzustellen. Ein sehr zentrales Element ist die Erarbeitung von „Hoffnungen und Befürchtungen“. Hierbei trägt die Gruppe zu Beginn einer Veranstaltung selbst alles zusammen, was sich ereignen soll und was nicht. Gleichzeitig wird ein „Gruppenkontrakt“ oder ein „Arbeitsbündnis“ hergestellt und meine Rolle als Facilitatorin mit allen geklärt.
Diese Praxis geht zurück auf die Arbeit von Birgitt Williams (2014) und den »Genuine Contact«-Ansatz: ein holistischer Ansatz zur Organisationsentwicklung. Mehr dazu findest du hier
Ich lasse dazu in kleinen Gruppen (vier bis sechs Personen) auf einem Flipchart (oder auf Post-its) Gedanken zur Frage sammeln:
„Was sind meine/ unsere Hoffnungen und Befürchtungen in Bezug auf diese Veranstaltung?“
Dafür gebe ich ca. 15 Minuten Zeit, anschließend präsentieren die Kleingruppen ihre Flipcharts (hierbei ist wie immer wichtig, alle daran zu erinnern, nur das vorzulesen, was sie aufgeschrieben haben…). Nach der Präsentation frage ich »Was denkt ihr jetzt?« und warte ab, lasse ein paar Teilnehmende sprechen und frage dann nach: „Wer ist aus eurer Sicht dafür zuständig, dass eure Hoffnungen heute erfüllt werden und eure Befürchtungen nicht zu sehr zum Vorschein kommen?“.
Auch nach dieser Frage warte ich ab, was kommt. Meist wird dann gelacht und wir verständigen uns darauf, dass alle im Raum dafür zuständig sind, jede und jeder Einzelne in seiner/ ihrer Rolle.
Wir hängen die Plakate später gut sichtbar im Raum auf. Sie dienen zur Erinnerung. Ich gehe nicht weiter auf die Inhalte der Plakate ein. Häufig tun dies jedoch die Teilnehmenden selbst, vor allem dann, wenn es schwierig wird. Wenn zum Beispiel jemand bei den Befürchtungen aufgeschrieben hat »Wir verzetteln uns« und es sich im Prozess für jemanden so anfühlt, dann sagt diese Person »Jetzt passiert genau das, was wir nicht wollten – wir verzetteln uns. Lasst uns …« Das ist Selbststeuerung und viel effektiver, als wenn ich mit einem mahnenden Finger an »Regeln« erinnere!
Die kleine Arbeitsweise/ Technik »Hoffnungen und Befürchtungen« bringt noch weitere Dinge nach vorn:
- Sie verbindet die Menschen miteinander im Raum. Durch die kleine Gruppenaufgabe lernen sich die Menschen besser kennen, öffnen sich ein wenig mehr und es entstehen erste soziale Bezugspunkte (egal, ob die Menschen sich schon kannten oder nicht). In einer kleinen Gruppe fällt es Menschen meist leichter über Hoffnungen und Befürchtungen zu sprechen als in der Gesamtgruppe.
- Sie betont die Selbstverantwortung, dass alle für das Vorankommen an diesem Tag zuständig sind. Das ist das Gegenteil einer an mich gerichteten „Erwartungsabfrage“, bei der ich „liefern“ muss, und macht noch einmal unsere Arbeitsteilung und die facilitative Haltung sehr deutlich.
- Hoffnungen und Befürchtungen beziehen sich auf Gefühle, die Menschen mitbringen. Diese werden damit explizit eingeladen und „erlaubt“. Es macht das Entstehen einer entsprechenden Gruppenkultur wahrscheinlicher, die ermöglicht, aufkommende Gefühle, Befürchtungen, Bedenken etc. auch zu äußern.
- Gleichzeitig entsteht ein gemeinsamer Bezugspunkt im Raum. Die Teilnehmenden setzen sich auch in Beziehung zu Impulsen, die andere hineingebracht haben.
- Letztendlich bekomme ich auch einen besseren Eindruck von der Gruppe und den (latenten) Themen im Raum.
Ich starte praktisch jeden Workshop mit „Hoffnungen und Befürchtungen“- auf genau diese Art.
Mehr zu Facilitation in meinem „Mini Handbuch Facilitation“, erschienen 2021 beim Beltz-Verlag oder in unseren Ausbildungsangeboten auf www.facilitation-academy.de
© Jutta Weimar – Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Leicht veränderter Auszug aus dem Buch „Mini-Handbuch Facilitation“, erschienen 2021 beim Beltz Verlag. Alle Rechte vorbehalten. Mehr Informationen zu Facilitation unter: www.facilitation-academy.de